Urteil des Bundesfinanzhofes vom 13.11.2024 – I R 3/21 (Vorinstanz FG München, Urteil vom 14.12.2020 – 7 K 899/19)
Leitsatz: Bei der Prüfung der steuerlichen Zurechnung von Aktien nach § 39 AO ist zu prüfen, wem die wesentlichen mit dem Vollrecht an Aktien verbundenen Rechte objektiv und in tatsächlicher Hinsicht zustehen; nicht relevant ist, ob der Inhaber dieser Rechte sie subjektiv auch wahrnehmen möchte.
Die steuerliche (und steuerstrafrechtliche) Beurteilung von Aktiengeschäften um oder am Dividendenstichtag ist ein vielerorts diskutiertes Thema und seit dem sog. „Cum/Ex“-Skandal bereits seit Jahren in der Presse und in der Politik angekommen. Für viele Banken sind diese Fragestellungen weiterhin bei Betriebsprüfungen von besonderer Relevanz.
Steuerlich stellen sich jeweils zwei Fragen:
Beide Fragen sind entscheidend dafür, ob die Dividenden
Die Geschäfte können aus steuerlicher Sicht sehr verkürzt in drei große Fallgruppen aufgeteilt werden (auch wenn in der Praxis durchaus mehrere dieser Transaktionen verbunden wurden):
Cum/Ex-Geschäfte mit Leerverkauf
Bei den Cum/Ex-Geschäften mit Leerverkauf ging es im Kern darum, dass eine deutsche Aktie mit Dividendenberechtigung (cum) kurz vor oder am Dividendenstichtag verkauft, aber erst nach dem Dividendenstichtag ohne Dividendenberechtigung (ex) geliefert wurde. Durch die Einschaltung eines ausländischen Leerverkäufers war es bis ins Jahr 2011 (der Gesetzgeber hat mit einer ab dem 01.01.2012 geltenden Gesetzesänderung reagiert) möglich, Unzulänglichkeiten im Abwicklungssystem der Banken auszunutzen, wodurch unrichtige Steuerbescheinigungen ausgestellt und hierdurch Kapitalertragsteuern bei dem Käufer als vermeintlichem steuerlichen Anteilseigner der Aktien zu Unrecht angerechnet wurden. Es kam daher zur doppelten oder gar mehrfachen Anrechnung von Kapitalertragsteuern, die tatsächlich nur einmal durch die Aktiengesellschaft abgeführt wurden.
Mittlerweile ist höchstrichterlich geklärt, dass die Geschäfte steuerlich nicht zu dem von dem Marktteilnehmern gewünschten Ergebnis führten, d.h. der Erwerber der Aktien wurde nicht wirtschaftlicher Eigentümer und eine (doppelte) Anrechnung der Kapitalertragsteuer war nicht möglich (vgl. BFH vom 16.04.2014 – I R 2/12 mit Anm. Schmich, GmbHR 2014, 1177 sowie BFH vom 02.02.2022 – I R 22/20). Der BFH hat hierbei bereits den Übergang des wirtschaftlichen Eigentums an den Aktien aufgrund eines „modellhaft aufgelegten Gesamtvertragskonzepts“ verneint; die Frage eines Gestaltungsmissbrauches hat er offengelassen. Ebenso wurde durch den BGH für Strafsachen geklärt, dass regelmäßig in solchen Cum/Ex-Fällen auch eine Steuerhinterziehung vorlag (vgl. z.B. BGH vom 29.10.2024 – 1 StR 58/24 m.w.N.).
Cum/Cum-Geschäfte
Der Begriff rührt daher, dass hier die Aktien mit Dividendenberechtigung (cum) verkauft und auch rechtzeitig (d.h. spätestens am Dividendenstichtag noch mit Dividendenberechtigung, also ebenfalls cum) an den Erwerber geliefert und zivilrechtlich übertragen werden. Obgleich begrifflich sehr ähnlich klingend, haben Cum/Cum-Geschäfte mit deutschen Aktien eine gänzlich andere Zielrichtung als Cum/Ex-Geschäfte: Es geht nicht um die missbräuchliche Anrechnung von nicht gezahlten Kapitalertragsteuern, sondern um die Vermeidung einer finalen Steuerbelastung ausländischer Aktionäre. Während ein inländischer Aktionär die einbehaltene Kapitalertragsteuer (derzeit 26,375 % der Dividende) vollständig anrechnen kann, ist dies bei einem ausländischen Aktionär nicht der Fall. Bei diesem verbleibt regelmäßig eine Definitivbelastung von mindestens 15 %.
Cum/Cum-Gestaltungen sind dadurch gekennzeichnet, dass der Steuerausländer diese Definitivbelastung vermeiden möchte, indem er seine inländischen Aktien vor dem Dividendenstichtag auf eine inländische Person (z.B. eine inländische Bank) überträgt und nach der Ausschüttung der Dividende diese wieder zurückübertragen bekommt. Die Übertragung der Aktien kann z.B. durch ein Wertpapierdarlehen, durch Kassageschäfte (Kauf und Verkauf mit entsprechenden Absicherungsgeschäften) oder durch Wertpapierpensionsgeschäfte (Repo-Geschäfte) erfolgen. Daher kommt auch der früher üblicherweise genutzte Begriff des Dividenden-Strippings. Der Erwerber erhält die Dividende und rechnet die Kapitalertragsteuer an, muss aber an den Ausländer eine Ausgleichszahlung hierfür leisten. Der Inländer wird für diese Transaktion vergütet und der Ausländer verschafft sich im Vergleich zum Halten der Aktien einen finanziellen Vorteil: statt einer finalen 15%igen Steuerbelastung, zahlt er etwa 3-5 % der Bruttodividende als Vergütung an den Inländer, am Ende also aus der wirtschaftlichen Sicht des Ausländers eine Kostenreduzierung.
Der BFH hat bei solchen Transaktionen den Übergang des wirtschaftlichen Eigentums an den Aktien seit seinem bekannten ersten „Dividenden-Stripping“-Urteil (BFH vom 15.12.1999 – I R 29/97) mehrfach anerkannt und einen Gestaltungsmissbrauch wegen einer damals noch vorliegenden Sonderregelung nicht geprüft. Die Finanzverwaltung hatte zunächst einen Nichtanwendungs-Erlass veröffentlicht, aber nachfolgend diese Rechtsprechung im Jahr 2011 für Transaktionen nach dem 31. Dezember 2009 akzeptiert.
Der Gesetzgeber hat ab dem Jahr 2016 Sondervorschriften eingeführt, welche die Anrechenbarkeit der Kapitalertragsteuer beim Inländer stark einschränken (§§ 36a, 50j EStG), sodass Cum/Cum-Geschäfte seitdem keine große Rolle mehr spielen.
Strukturierte Wertpapierdarlehen im Inland (und vergleichbare innerdeutsche Gestaltungen)
Sogenannte strukturierte Wertpapierdarlehen (auch Wertpapierleihen genannt) sind dadurch gekennzeichnet, dass die Aktien von einer Gesellschaft, bei der Dividenden nicht steuerbefreit sind, an einen Entleiher über ein Wertpapierdarlehen „verliehen“ werden, bei dem die Dividendenerträge nach § 8b Abs. 1 KStG von der Steuer befreit sein sollen. Insgesamt handelt es sich bei der strukturierten Wertpapierleihe um eine Gestaltung, bei der beim Entleiher künstlich ein Betriebsausgabenüberhang geschaffen werden soll. Dieser Betriebsausgabenüberhang entsteht für den Entleiher durch das an den Verleiher gezahlte Entgelt (Dividendenausgleichszahlung, Wertpapierdarlehensgebühr), dem infolge der 95%igen Steuerbefreiung für Dividenden nach § 8b Abs. 1 KStG jedoch nur ein geringer steuerpflichtiger Dividendenertrag gegenübersteht. Diese Geschäfte wurden sowohl mit deutschen als auch mit ausländischen Aktien durchgeführt. Der Gesetzgeber hat den steuerlichen Effekt dieser Geschäfte mit der Vorschrift des § 8b Abs. 10 KStG seit dem Jahr 2008 (mit verschiedenen Nachbesserungen des Gesetzes) ausgeschlossen.
Neben den bereits genannten Dividenden-Stripping-Entscheidungen hat der BFH im Fall von Wertpapierdarlehen zunächst den Übergang des wirtschaftlichen Eigentums an den Aktien auf den Darlehensnehmer grundsätzlich bejaht, da dieser zivilrechtliche Eigentümer der Wertpapiere wird (BFH vom 17.10.2001 – I R 97/00). Diesen Grundsatz hat er jedoch im Jahr 2015 im Fall eines strukturierten Wertpapierdarlehens mit ausländischen Aktien maßgeblich eingeschränkt (BFH vom 18.08.2015 – I R 88/13): Danach kann im Fall, dass dem Darlehensnehmer „lediglich eine formale zivilrechtliche Rechtsposition, eine leere Eigentumshülle, verschafft wurde“, das wirtschaftliche Eigentum ausnahmsweise beim Darlehensgeber verbleiben. Der Fallgestaltung lagen in der damaligen Praxis regelmäßig vereinbarte Konditionen zugrunde, sodass das Urteil eine wesentliche Breitenwirkung hatte (siehe auch Schmich/Schnabelrauch, GmbHR 2017, 224). Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) hat das BFH-Urteil aus dem Jahr 2015 mit verschiedenen Schreiben in den Jahren 2016, 2017 und (verschärfend) im Jahr 2021 (Schreiben vom 09.07.2021, BStBl. I 2021, S. 995 und S. 1002) umgesetzt.
Die in der Entscheidung dargelegten Kriterien hat der BFH allerdings mit einer Entscheidung vom 29.09.2021 (I R 40/17) modifiziert und eingeschränkt, sodass fraglich war, ob und inwieweit die maßgeblichen BMF-Schreiben schon wieder überholt sind.
Eine Vielzahl dieser rechtlichen Unsicherheiten wurde nunmehr durch den I. Senat des BFH geklärt.
Der entschiedene Fall betraf eine strukturierte Wertpapierleihe (wie oben beschrieben) mit britischen Aktien (hier wurden die Aktien als Sicherheit für im Rahmen einer Wertpapierleihe übertragenen festverzinslichen Wertpapiere gestellt). Das FG München hatte zuvor dem Finanzamt im Ergebnis Recht gegeben und die Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums an den Aktien auf die Klägerin und damit die gewünschten steuerlichen Effekte verneint. Die Frage eines Gestaltungsmissbrauches hat das FG daher nicht geprüft (FG München vom 14.12.2020 - 7 K 899/19).
Zum wirtschaftlichen Eigentum
Zunächst hat der Senat ausgeführt, dass die vorliegende Fallgestaltung nicht als Sicherheitengestellung im Sinne des § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 AO anzusehen ist. Da die Aktien jederzeit auch ohne Eintritt eines Sicherungsfalls veräußert werden konnten, sei dies vielmehr mit einem Wertpapierdarlehen vergleichbar (Rn. 24).
Sodann erläutert der Senat nochmals die Grundsätze zur steuerlichen Beurteilung der Wertpapierleihe im Rahmen des § 39 AO vor dem Hintergrund seiner bisher ergangenen Rechtsprechung (Rn. 25 und 26):
Im vorliegenden Fall führte die Anwendung dieser Grundsätze nach Ansicht des BFH zum Übergang des wirtschaftlichen Eigentums auf die Klägerin (Rn. 27 ff.):
Die Relevanz dieser Aussagen ist für die Praxis immens: Zum einen wird die bereits in dem Urteil aus dem Jahr 2021 angedeutete Abkehr oder Modifikation des Urteils aus dem Jahr 2015 bestätigt. Zum anderen werden wesentliche Kriterien anders gesehen als in den beiden BMF-Schreiben aus den Jahr 2021. Man kann wohl festhalten, dass die Anwendung dieser Kriterien des BFH in den meisten Fällen in der Praxis – und damit entgegen der noch veröffentlichten Ansicht des BMF – zum Übergang des wirtschaftlichen Eigentums führen wird. Es bleibt abzuwarten, ob und wie das BMF auf diese Entscheidung reagieren wird.
Zu einem möglichen Gestaltungsmissbrauch
Der BFH hat allerdings das Verfahren an das Finanzgericht zurückverwiesen. Dieses soll die Frage eines Missbrauchs rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten nach § 42 AO prüfen, wobei der BFH hier die folgenden Hinweise gibt (Rn. 40 ff.):
„Für die Beurteilung des Vorliegens einer unangemessenen Gestaltung dürfte der Umstand wesentlich sein, ob die Absicherung des Wertpapierdarlehens durch die Übertragung der britischen Aktien auch außersteuerliche Gründe gehabt hat. Denn hat eine Gestaltung überhaupt keinen über die Verschaffung eines Steuervorteils hinausgehenden eigenen wirtschaftlichen Zweck, ist dies ein gewichtiges Indiz für das Vorliegen einer missbräuchlichen Gestaltung. […] Sollte das FG keine außersteuerlichen Gründe für die Besicherung der Wertpapierdarlehensgeschäfte feststellen können, dürfte in der vereinbarten Sicherheitengestellung eine missbräuchliche Gestaltung zu sehen sein. Denn die Besicherung hätte dann allein dem Zweck gedient, die mit den vereinnahmten Dividenden im Zusammenhang stehenden Beteiligungsaufwendungen […] künstlich in einer vom Gesetz nicht vorgesehenen Weise auf einen Anteil von 100 % der Dividenden zu erhöhen …“
Die Entscheidung hat eine große Bedeutung für die steuerliche Beurteilung der Cum/Cum-Transaktionen in der Vergangenheit. Die vom BFH geforderte „wirtschaftliche Dispositionsbefugnis“ wird den inländischen Erwerbern in den allermeisten Fällen zugestanden haben, denn Verfügungsbeschränkungen des Erwerbers während der Haltedauer der Aktien waren in der Praxis eher selten. Daher muss man das BMF-Schreiben zu Cum/Cum-Transaktionen aus dem Jahr 2021 hinsichtlich der dort aufgestellten Kriterien zum wirtschaftlichen Eigentum als überholt ansehen.
Somit bleibt die Frage, ob Cum/Cum-Transaktionen einen Gestaltungsmissbrauch darstellen können. Dies ist sicherlich sehr einzelfallabhängig, aber im Grundsatz schwierig zu begründen:
Schließlich hat das Besprechungsurteil auch erhebliche Auswirkungen auf die steuerstrafrechtliche Beurteilung von Cum/Cum-Transaktionen. Das OLG Frankfurt a.M. hat mit Beschluss vom 10.12.2024 (3 Ws 231/24) eine Anklage wegen Steuerhinterziehung im Fall eines strukturierten Wertpapierdarlehens vor dem LG Wiesbaden zugelassen. Der Beschluss wird im Fachschrifttum und der Presse auch für die strafrechtliche Bewertung von Cum/Cum-Transaktionen als relevant angesehen. Da allerdings die dort zugrunde gelegten steuerlichen Kriterien zum Übergang des wirtschaftlichen Eigentums an den Aktien im deutlichen Widerspruch zu den Ausführungen des BFH stehen, sollte zu erwarten sein, dass das LG Wiesbaden die klaren Vorgaben des BFH berücksichtigt und entgegen dem OLG die Zurechnung beim Erwerber bejaht. Damit käme es auch dort auf die Frage an, ob steuerlich ein Gestaltungsmissbrauch vorlag, wobei in diesem Fall die Tatbestandsvoraussetzungen einer Steuerhinterziehung allerdings deutlich schwieriger zu erfüllen sind (vgl. BGH, Urteil vom 01.07.2008, 5 StR 156/08, NStZ 2009, 273 m.w.N.).